Israels Angriff auf die Hilfsflotte nach Gaza hat die Aufmerksamkeit in aller Welt erneut auf die Abkapselung Gazas gerichtet. Taghreed El-Khodary, die regelmäßig für die New York Times aus Gaza berichtet, hält sich zur Zeit als Gastdozentin in den USA auf, wo sie Heinrich Böll Fellow beim Carnegie Endowment for International Peace ist. Im Gespräch erläutert sie, was momentan in Gaza geschieht und wie der Zwischenfall die Politik in der Region beeinflussen wird. Für El-Khodary ist klar, der israelische Angriff wird Hamas helfen und stärken.
Wie haben die Menschen in Gaza auf den israelischen Angriff reagiert? Wie wird er sich auf die Lage in Gaza auswirken?
Nach dem todbringenden israelischen Angriff ist die Wut gegen Israel natürlich groß; in Gaza und im Westjordanland gab es Proteste. Aber die Menschen sind auch ergriffen von der Unterstützung, die sie aus der Türkei erfahren. Sie sind dankbar für die Anstrengungen, die die türkischen Unterstützer auf sich genommen haben und berührt davon, dass die Türkei, ein nicht-arabisches Land, ihre Sache unterstützt und Israel herausfordert.
Ich habe die Ankunft vieler Schiffe mit Hilfsgütern in Gaza erlebt. Die Menschen, alte und junge gleichermaßen, sind beeindruckt davon und dankbar dafür, dass sie von so weit kommen, um ihnen zu helfen. Diese moralische Unterstützung genügt jedoch nicht; durch eine nur symbolische Unterstützung lassen sich die Probleme in Gaza nicht beheben.
Die israelische Einkesselung hat die Mittelschicht in Gaza zerstört und zu einer informellen Wirtschaft geführt, die von den Schmugglern und Hamas beherrscht wird. Die gegenwärtige Politik hat Gaza in eine abhängige Gesellschaft verwandelt. Die Gehälter der Angestellten der Palästinensischen Verwaltung werden aus Spenden finanziert. Diese Angestellten jedoch werden von der Führung in Ramallah dazu aufgefordert, nicht zu arbeiten, um so den Druck auf Hamas zu erhöhen. Hamas hat diese Lücke gefüllt und wichtige Positionen mit seinen Anhänger besetzt, auch die von Lehrern an Schulen.
Was den Menschen in Gaza Not tut, ist nicht humanitäre Hilfe. Not tut ein Ende der israelischen Blockade, Zugang zu und Kontakt mit der Außenwelt, eine funktionierende Wirtschaft und Freiheit. Die Palästinenser müssen eine gute Zukunft für die nächste Generation aufbauen können.
Welchen Einfluss wird der Angriff auf die politische Landschaft in Gaza haben?
Sieht man sich die Lage an, die Reaktionen gegen Israel in aller Welt, dann profitiert davon nur Hamas (obwohl auch das Ansehen der Türkei in der Region momentan enorm gestiegen ist). Hamas ist stärker geworden; gleichzeitig befinden sich die USA, Ägypten, Israel und die Fatah mit ihren politischen Linien in einem gewissen Schlamassel wieder.
Die Lage ist ein Geschenk für Hamas. Die Ironie dabei ist, dass Israel es ihr hat zukommen lassen. In den letzten paar Jahren musste Hamas darum kämpfen, die Kontrolle über Gaza und die innere Sicherheit dort aufrecht zu erhalten – die Menschen hatten keine Staatsführung. Nun aber kann Hamas von einer Position der Stärke aus handeln.
Die Vereinigten Staaten haben geglaubt, die Blockade würde Hamas schwächen und die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass die Menschen in Gaza gegen die Hamas-Führung rebellieren. Nach dem israelischen Angriff ist diese Haltung nun in ihren Grundfesten erschüttert.
Die internationale Gemeinschaft hatte in den vergangenen drei Jahren weitgehend vergessen, wie es in Gaza aussieht. Jetzt blicken wieder alle auf die Region, im gesamten Nahen Osten gibt es zahlreiche Demonstrationen, und Regierungschefs aus aller Welt verurteilen Israel. Klar ist, die internationale Sympathie und Aufmerksamkeit wird noch für einige Zeit auf Gaza gerichtet sein.
Die Frage ist nun, wie Hamas die neue Stärke zum eigenen Vorteil nutzt. Hamas wird auf jeden Fall versuchen, Druck auf Ägypten auszuüben, damit der Grenzübergang von dort nach Gaza offen bleibt. Interessant wird sein, zu beobachten, wie Ägypten, die Regierung der USA, die Fatah und der palästinensische Premierminister Salam Fayyad mit ihren jeweiligen politischen Krisen umgehen. Bislang hatten sie darauf gesetzt, Hamas würde nach und nach schwächer werden und schließlich verschwinden. Nun sieht das aber ganz anders aus.
Wie hat Ägypten auf die Krise an seiner Grenze reagiert?
Nach dem Zwischenfall vom Montag, den 31. Mai 2010, hat Ägypten seine Landgrenze nach Gaza geöffnet – vorgeblich aus humanitären Gründen. Israel kann die Blockade von Gaza nur dann aufrecht erhalten, wenn Ägypten mitzieht. Momentan ist nicht klar, ob und wann die Grenze wieder geschlossen wird.
Ägypten befindet sich nun in einer schwierigen Lage. Auf die Regierung von Husni Mubarak wird von innen wie außen Druck ausgeübt werden, die Grenze offen zu halten. Hamas wird Kairo dazu drängen, die Übergänge offen zu lassen und wird versuchen, den innenpolitischen Druck auf Ägypten zu erhöhen. Das Regime in Kairo wird versuchen, alles zu tun, damit die Opposition, speziell die Muslimbrüderschaft, aus der Lage in Gaza nicht Profit schlägt – in Ägypten stehen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an.
Wahrscheinlich wird die Grenze früher oder später aber doch wieder geschlossen werden. Die Frage ist, ob die USA Ägypten grünes Licht geben werden, Versöhnungsgespräche zwischen der Fatah und Hamas zu vermitteln. Momentan gibt es für Ägypten und die Fatah wenig Grund, dies zu tun, denn am Verhandlungstisch wird Hamas die besseren Karten haben. Alternativen gibt es jedoch so gut wie nicht.
Wird Israel die Blockade von Gaza aufheben?
Trotz der weltweiten Empörung und dem steigenden Druck, die Blockade von Gaza zu beenden, wird Israel die Zugangsbeschränkungen wohl kaum wesentlich lockern. Israel möchte, dass Hamas Gilad Schalit, den israelischen Soldaten, den sie seit 2006 gefangen hält, freilässt. Bevor das geschieht, wird Israel seine Haltung zu Gaza nicht ändern.
Die Vereinigten Staaten und andere werden versuchen, einen Kompromiss zu erreichen, durch den mehr humanitäre Hilfe nach Gaza gelangen kann. Das wird aber nicht ausreichen und das Leid in Gaza nicht beenden. Wie gesagt, humanitäre Hilfe ist keine Lösung. Die US-Regierung unterstützt für Gaza ein Gebilde, das sich von dem im Westjordanland vollständig unterscheidet. Man will Hamas bestrafen, aber anhand dessen, was ich vor Ort wahrnehme, sind es die Menschen in Gaza die leiden, die unfrei sind, keine Ausbildung erhalten, keine Wirtschaft haben und keine würdige Zukunft für ihre Kinder sehen.
Wie wird sich das Verhältnis zwischen Hamas und Fatah entwickeln?
Chalid Maschal, der im Exil lebende Anführer von Hamas, forderte umgehend eine Wiederaufnahme der Gespräche mit der Fatah unter Führung, auf Seiten der Fatah, des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas. Da Ägypten diese Gespräche leitete, gestalteten sich die Verhandlungen wegen der Spannungen zwischen Hamas und Ägypten kompliziert. Jetzt, da Hamas vergleichsweise stärker geworden ist, möchte man an den Verhandlungstisch zurück.
Fatah wurde durch den israelischen Angriff in Verlegenheit gebracht, hatte man doch gerade damit begonnen, indirekte Gespräche mit Israel zu führen. Ein vergrätzter Abbas muss sich nun eingestehen, dass die Verhandlungen mit Israel kaum zu einem Durchbruch führen werden. Interessant sein, wird zu sehen, wie sich Abbas während seines Besuchs in Washington verhält.
Welchen Einfluss wird der Zwischenfall auf die indirekten Gespräche zwischen Israel und der palästinensischen Führung haben?
Das Ansehen Israels in aller Welt hat in den letzten Jahren sehr großen Schaden genommen – erst durch den dreiwöchigen Krieg in Gaza, 2009, weiter durch den Goldstone-Bericht in dem en détail die Kriegsverbrechen aufgelistet wurden, die während dieses Kriegs von israelischer wie palästinensischer Seite begangen wurden und schließlich durch die Ermordung eines hochrangigen Hamas-Mitglieds in Dubai, zu deren Durchführung israelische Agenten gestohlene Pässe anderer Staaten verwendet haben. Die Entscheidung, in internationalen Gewässern ein türkisches Schiff zu entern und die Toten, die es dabei gab, werden Israels Stellung in der Welt nur weiter schwächen.
Da Israel versucht, die Proteste in aller Welt einzudämmen, kann es sein, dass Premierminister Benjamin Netanjahu nun eher wieder dazu bereit ist, indirekte oder direkte Gespräche mit den Palästinensern aufzunehmen. Selbst wenn sich Israel verhandlungsbereiter zeigen sollte, muss aber stark daran gezweifelt werden, dass Netanjahu einen Palästinenserstaat je zulassen wird.
Auf Seite der Palästinenser befindet sich Abbas in einer äußerst heiklen Lage. Abbas ist in der Bevölkerung nicht sehr beliebt, und das Vorgehen Israels, wozu auch der Bau weiterer Siedlungen gehört, schadet seinem Ansehen nur noch mehr. Für ihn wäre es eine höchst unangenehme Situation, müsste er sich nach dem Zwischenfall mit Netanjahu und den Israelis an einen Tisch setzen. Die USA werden jedoch weiter auf ihn Druck ausüben, indirekte Gespräche zu führen – in der Hoffnung, dass daraus schließlich direkte Verhandlungen werden.
Aus dem Englischen übersetzt von Bernd Herrmann.
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